Ich sehe was, was kaum jemand sieht: raumpionierentwickelte Regionen
Ich sehe was, was kaum jemand sieht: raumpionierentwickelte Regionen
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Vor vielen Jahren sah ich mal eine Doku: „Die Siedler. Am Arsch der Welt.“ Der Film beschreibt, wie eine Gruppe von Menschen Ende der 90er Jahre an einem (auch finanziellen) Wendepunkt in ihrem Leben von den Alpen in das Dörfchen Klein Jasedow in den äußersten Nordosten Deutschlands zieht. Die Gruppe besteht unter anderem aus einer ehemaligen Hamburger Lehrerin, einem ehemaligen Musiker der Bayrischen Staatsoper und einem Musiktherapeuten und Instrumentenbauer.

„Arsch der Welt“ – so hatte der Bürgermeister seinen Ort in dem SPIEGEL Artikel genannt, den einer aus der Gruppe las, und wünschte sich dringend Leute mit Ideen her. „Letztes Loch vor der Hölle“ war eine andere Beschreibung Einheimischer ihrer Region. „Endpunktnachteil“ nannte Angela Merkel die Situation. Und doch kamen da Leute, die anderes sehen konnten: Die Schönheit der Natur zum Beispiel – mit ihren leichten Hügeln und sogenannten Himmelsaugen: kleine, zumeist mit Wasser gefüllte Senken.

Hölle oder Himmel? Ergebe ich mich den Umständen oder erschaffe ich neue? Das liegt immer an mir selbst.

Die Neusiedler sehen nicht nur den äußerlichen Verfall und die Hoffnungslosigkeit der verbliebenen Menschen. Sie sehen die wundervolle Landschaft, die Räume und Möglichkeiten. Sie fangen bei null und einigen ruinösen Häusern an. Um sie herum herrscht Massenarbeitslosigkeit und sie spüren, dass sie sich nicht nur um sich selbst kümmern, sondern auch für Ihre Nachbarn Arbeit schaffen müssen. Schritt für Schritt bauen sie langsam neben eigenem Wohnraum eine Medienproduktion, einen Teehandel, Musikinstrumentenbau und einen Veranstaltungsort auf. Sie stellen immer mehr Leute ein.

Sie werden damit unbeabsichtigt zu einem Kern einer viel umfassenderen Entwicklung, die rund um sie herum beginnt. Denn wo es schon eine kritische Masse gibt von etwa 5-6 Leuten, da trauen sich auch andere. Einige Jahre und Hindernisse später finden sich die vielen zugezogenen Raumpioniere unter der Marke „ErlebnisReich im Lassaner Winkel: Kräuter, Kunst und Himmelsaugen“ zusammen. Sie bieten zum Beispiel Raum für Auszeiten, Körperarbeit, Klangferien mit dem Monochord und Systemische Arbeit. Das klingt alles nach Prenzlauer Berg und nicht nach Peeneland. Es sind Angebote, wie es sie sonst nur in den Städten zu finden gibt, die den eigenen Bedürfnissen der Raumpioniere entsprechen und gleichzeitig Touristen anziehen. Der Lassaner Winkel ist zu einer von Raumpionieren entwickelten Region geworden.

Kann man das auch woanders machen? Nein, machen kann man das nicht. Denn die Entwicklung speist sich aus individueller Lust auf Selbstverwirklichung, am freien Gestalten, auf Kreativität und Sinngebung. Aber man kann es unterstützen. Indem man zum Beispiel:

  • schon mal darüber nachdenkt, wo Platz wäre, und einen einfachen Zugriff darauf schafft.
  • bei Förderungen weiterhilft.
  • sein Netzwerk zur Verfügung stellt.

Die Neu-Lassaner hatten die Unterstützung des Bürgermeisters, der sie eingeladen hatte. Das ist sehr viel wert.

Wir zum Beispiel haben letztes Jahr zusammen mit Partnern für unseren Landkreis ein Symposium zum Thema Kreativwirtschaft im ländlichen Raum entwickelt. Die Kreativwirtschaft ist eine riesige Chance für Regionen abseits der großen Städte, die Platz zum Experimentieren bieten. Alle Bürgermeister wurden angeschrieben. Von 53 kamen 5.

Die restlichen schauten vielleicht weiter mit ihrer „grauen Brille“ und können somit die Potentiale nicht erkennen: „Hier muss man ja weggehen. Hier ist doch nichts.“, höre ich es immer wieder sagen.

Dieses Nichts ist aber magisch für Raumpioniere.

Ich habe mir im Laufe der Zeit angewöhnt, jeglichen Mangel als Chance zu begreifen: Dörfer sterben aus? Wunderbar, wir haben günstigen Raum im Überfluss! Es gibt kein Kundalini-Yoga in der gesamten Lausitz? Großartig, ich mache selbst eine Ausbildung zur Lehrerin. Es gibt zu wenige Fachkräfte in der Gegend? Herrlich, dann müssen die Arbeitgeber die Arbeitskraft wieder als wertvoll betrachten und bessere Angebote machen als bisher.

Wenn ich in einer Großstadt ein Angebot für Kinder zum Beispiel aufbauen will, muss ich dazu laut auf mich aufmerksam machen. Ich muss mir mit viel Kraft und oft auch Geld eine Lücke schaffen. Hier auf dem Land ist man meist der Einzige weit und breit, dem dann auch noch all die Anerkennung zuteil wird.

Das scheinen immer mehr Leute auch zu wollen. Als ich 2009 in die Oberlausitz zog, war ich gefühlt die Einzige. In den letzten Jahren beobachte ich nun Zuzügler an allen Orten. Kleine und größere kritische Massen entstehen. Wie zum Beispiel in Herwigsdorf-Rosenbach bei Löbau. Dort leben bereits 38 ehemalige Städter. Das sind alles Leute, die man eher in Dresden-Neustadt, Leipzig oder Berlin vermuten würde, zum Beispiel eine Goldschmiedin, eine Eventmanagerin, ein Sozialarbeiter… Für Herwigsdorf-Rosenbach gibt es in Dresden schon eine Art Warteliste für frei werdende Häuser. Auf der Website eines Vereins dieser Zuzügler steht:

„Wir, die guten Willens sind
 Geführt von Ahnungslosen
 Versuchen für die Undankbaren
 Das Unmögliche zu vollbringen
 Wir haben so viel mit so wenig
 So lange versucht, dass wir jetzt
 Qualifiziert sind fast alles
 Mit Nichts zu bewerkstelligen.“

Typische Raumpioniere eben.

Und doch: Alles können Raumpioniere auch nicht. Bei vielen scheitert der Wunsch aufs Land zu gehen, um eine Landwirtschaft zu betreiben, seit einigen Jahren daran, dass es fast unmöglich ist, Land zu kaufen. Die Bodenpreise sind durch internationale Landaufkäufer enorm gestiegen. Große Agrargenossenschaften haben zum Teil Vorkaufsrecht oder Flächen sind auf 25 Jahre fest gepachtet.

Andreas Willisch vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung sagt: Die Bodenfrage wird entscheidend für den ländlichen Raum. Wird sie politisch gelöst, dann gibt es enorme Entwicklungschancen.

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