Auf dem Weg in die neue Ländlichkeit
Auf dem Weg in die neue Ländlichkeit
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Text eines Vortrags von Dr. Wolf Schmidt, Raumpionier in Mecklenburg-Vorpommern,  am 16. Januar 2018 in Leezen, den er auf dem LANDBLOG-Mecklenburg-Vorpommern veröffentlichte. Das Bild zeigt einen Moment am Schweriner See.

Meine Damen und Herren,

Sie haben mich eingeladen, etwas zur Rolle von Kunst- und Kulturschaffenden für unseren Amtsbereich Crivitz vorzutragen. Wenn wir diese Rolle verstehen wollen, müssen wir unsere Gesellschaft breiter in den Blick nehme – sozusagen die Vogelperspektive auf Herausforderungen, die vor uns stehen.

Wir leben in einer Region, die zutiefst ländlich geprägt ist. Das Amt Crivitz erstreckt sich über 483 Quadratkilometer und ist damit fast 20 Prozent größer als das Bundesland Bremen. Aber mit circa 25.000 Einwohnern kommen wir nur auf eine auch für ländliche Regionen unterdurchschnittliche Bevölkerungsdichte von 51 Einwohnern pro Quadratkilometer. Selbst das Städtchen Crivitz existiert nur aus der Ländlichkeit des Umlands. Die Nähe zu Schwerin ist dabei Vor- und Nachteil zugleich. Vorteil für unsere Erwerbs-, Konsum- und Kulturbedürfnisse, aber nachteilig, wenn wir eigenes Profil und eigene Sichtbarkeit gewinnen wollen.

Von der Alten zur Neuen Ländlichkeit

Bei uns ist es jedenfalls ländlich. Aber Ländlichkeit unterliegt einem dramatischen Wandel. Die alte Ländlichkeit wurde durch die DDR zwar politisch revolutioniert, aber im Produktionsalltag galt weiterhin: Wer auf dem Lande lebte, lebte direkt oder indirekt von Agrarwirtschaft. Landarbeit war harte körperliche Arbeit. Auf dem Land zu leben, war eher schicksalhaft als frei gewählt, ein Klassenschicksal gerade für die Landarbeiter. Landleben galt als Inbegriff von Rückständigkeit, Landflucht war der Ausweg.

Diese alte Ländlichkeit ist untergegangen. Mecklenburg-Vorpommern ist dafür ein herausragendes Beispiel. Wir gelten gemeinhin als Agrarland. Aber wissen Sie, wie viel Menschen bei uns noch in der Landwirtschaft beschäftigt sind? In ganz MV gibt es noch 16.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Landwirtschaft einschließlich Forst und Fischerei. Einer von 100 Einwohnern hat einen Job in der Landwirtschaft. Wenn ich die Betriebsinhaber und mithelfende Familienangehörige, angehörige Kinder und Rentner dazuzähle und die großen Städte abziehe, wird man sagen können: Höchstens 10 % der Einwohner unseres sehr ländlichen Amtsbezirks haben noch irgendwie mit landwirtschaftlichem Erwerb zu tun.

Was machen die anderen 90%? Sie sind auf dem Weg in die Neue Ländlichkeit. Die ist nicht mehr schicksalhaft, sondern frei gewählt, weil man ländliche Lebensqualität schätzt. Vielleicht auch nur für einen Lebensabschnitt. Ihre Erwerbsquellen sind ganz andere als Landwirtschaft: qualifizierte Handwerks- oder Dienstleistungs- und Kopfarbeit. Dazu gehören viele Selbständige und Kleinbetriebe, die handwerklich mit Bauen, dienstleistend mit Tourismus und Gesundheit oder als Kopfarbeiter mit IT, Beratung, Begutachtung, Texten und Gestalten, Medien, Wissenschaft und ähnlichem zu tun haben. Wegen der Nähe zu Schwerin kommen bei uns Etliche hinzu, die im Öffentlichen Dienst arbeiten. All diese Menschen könnten genauso gut in der Stadt – in Schwerin, Hamburg oder Berlin – leben.

Warum leben sie hier? Sicher nicht nur weil Wohnraum bei uns billiger ist. Sie schätzen das Platzangebot und die Nachbarschaft, Natur und Stille, Baden im See und Kraniche, Garten und Tiere. Praktische und emotionale Qualitäten. Und viele von ihnen wären längst weg oder nie gekommen, gäbe es nicht das Internet.

Die digitale Revolution hebt die Rückständigkeit des Landes auf. Das Internet bringt fast alles Weltwissen aufs Dorf. Das Internet ermöglicht Einkaufen und Steuererklärung, Geldanlage und Kontakte zu Freunden weltweit und immer mehr auch Jobs und Geschäfte unabhängig vom Wohn- und Arbeitsort. Die digitale Revolution ist die Basis Neuer Ländlichkeit, deshalb ist die Versorgung mit schnellem Internet die allererste Schlüsselaufgabe für ländliche Räume.

Kultur – Salz in der Suppe Neuer Ländlichkeit

Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wenn Qualifizierte auf dem Land wohnen, wollen sie auch geistige Abwechslung, Impulse für Denken und Wahrnehmungen, Gespräche mit anderen, die sich über Nichtalltägliches Gedanken machen. Deshalb sind Kunst- und Kulturschaffende das Salz in der Suppe Neuer Ländlichkeit.

Und für Zuwanderung sind sie noch viel mehr: Sie sind Hauptzeugen für Lebensqualität und Toleranz ländlicher Gesellschaft. Ein Dorf, in dem sich Künstlerinnen und Künstler wohl fühlen, wird mich mit meinen Macken und Marotten, meinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten höchstwahrscheinlich auch akzeptieren. Kunst und Kultur verbinden urbanes und ländliches Lebensgefühl – auf dem Land sicher eine andere Kultur, die sich nicht in der Überfülle der Opern-, Theater- und Kinoangebote zeigt, dafür auf dem Lande persönlicher, authentischer, intensiver ausfallen kann.

Neue Ländlichkeit bedeutet: der äußerliche Anschein ist immer noch Landwirtschaft – Felder, Wiesen, Wälder, Stallungen und Betriebshöfe. Aber die Gesellschaft hat sich davon längst abgekoppelt, tickt ganz anders.

Drehtür von Abwanderung und Zuwanderung

Das bringt die Drehtür von Abwanderung und Zuwanderung in Schwung. Menschen, die einen gewerblichen Arbeitsplatz suchen, haben vielleicht irgendwann die Nase voll vom Pendeln und ziehen in die Stadt. Wer in Crivitz Abitur macht, wird wahrscheinlich wegziehen. Ich würde das auch empfehlen – in der Hoffnung, dass er oder sie später zurück kommt. Aber Etliche sind damit auch verloren. Dafür träumt man anderswo vom Landleben: junge Familien und Senioren, Menschen die sich selbst verwirklichen wollen und nicht zuletzt Kunst- und Kulturschaffende, die von teuren Lofts, Stadtstress und Reizüberflutung genervt sind.

Das „Institut für Demoskopie Allensbach“ fragt seit über einem halben Jahrhundert, ob die Menschen in der Stadt oder auf dem Land „mehr vom Leben haben“. 1956 hielten 54 Prozent die Stadt für den besseren Ort, 1977 noch 39 Prozent und 2014 nur noch 21 Prozent. 40 Prozent dagegen meinten, auf dem Lande sei man glücklicher. Das Land wurde von allen Befragten – ob in Groß- oder Kleinstädten oder auf dem Lande – bevorzugt.

Das bedeutet: Es gibt nicht nur einen Urbanisierungstrend, von dem alle reden. Es gibt auch den Trend „Raus aufs Land“. In MV insgesamt können wir das längst beobachten. Seit 1990 haben wir rund 950.000 Wegzüge aus MV gehabt. Wir haben aber auch 850.000 Zuzüge zu verzeichnen. MV ist nicht nur ein Abwanderungsland, wir erleben gleichzeitig ein Zuwanderungswunder. Das würde sich wahrscheinlich auch in unser Amtsstatistik ähnlich zeigen.

Für uns kommt es darauf an, dass wir am Ende zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern gehören – dass mehr durch die Drehtür kommen als gehen. Denn die Zuwanderung muss auch den Sterbeüberschuss durch die ältere Bevölkerung kompensieren.

Und bei all der Zuwanderung müssen sich die Einheimischen, die Alteingesessenen, wohlfühlen. Gemeinsam wollen wir ein ländliches Lebensgefühl bewahren, ländliche Fertigkeiten und Traditionen pflegen, gute Nachbarschaft des Helfens und Feierns leben. Das unterscheidet unsere Neue Ländlichkeit von einer Vorstadtsiedlung.

Was für eine Zuwanderung brauchen wir? Uns hilft keine Armutsmigration aus anderen Ländern. Auch kein Hamburger Arbeitsloser, der bei Verstand ist, wird sich hier einen Job erhoffen. Am besten für uns sind Menschen, die Geld und Arbeit mitbringen. Zum Beispiel Selbständige und Personen, die durch Renten und Vermögen abgesichert hier Projekte verwirklichen wollen. Denen müssen wir Natur, Kultur und digitale Infrastruktur bieten.

Die müssen wir für unsere Region interessieren und wir müssen sie verführen, hierzubleiben oder zumindest hier aktiv zu werden. Das geht z.b. auch mit einem Zweitwohnsitz.

Tourismus als Einstiegsdroge

Tourismus ist die Einstiegsdroge, um unsere Region kennen- und liebenzulernen. Nicht ein Massentourismus mit Bettenburgen, sondern sanfter Natur- und Kulturtourismus, der zu uns passt.

Bei Touristen ebenso wie bei Einheimischen müssen wir Aufmerksamkeit wecken nicht nur für das, was man in Schwerin sehen kann sondern auch was hier vor Ort an Kunst und Kultur blüht.

Zum Leben gehört ein Haus. Davon gibt’s hier viele. Es gibt aber auch außergewöhnliche für außergewöhnliche Lebensentwürfe. Ich denke an Herrenhäuser, aber z.B. auch alte Bauernhäuser, alte Speicher oder Mühlen. Mir fallen gleich eine ganze Reihe ein, die darauf warten, wachgeküsst zu werden. Ich erwähne nur das Herrenhaus in Rubow, den Speicher in Liessow oder das Schloss Raben-Steinfeld. Solche Wahrzeichen sind prägend für unsere Orte, sie machen sie unverwechselbar. Deshalb müssen wir Menschen gewinnen, die diese Immobilien mit Leben erfüllen. Kulturelle Aktivitäten gehören dazu.

Ich glaube, wir müssen mehr Anstrengungen unternehmen, um unserer Region Strahlkraft zu geben. Dabei denke ich über das Amt Crivitz hinaus. Unsere Amtsgrenzen sind künstlich und interessieren außerhalb von Verwaltung niemanden. Es geht, grob gesagt, um den Raum zwischen dem Autobahnkreuz Wismar und dem Autobahnkreuz Schwerin. Damit sind gleichzeitig schon die Andockstellen für den „Garten den Metropolen“ nach Hamburg und Berlin benannt.

Dafür brauchen wir eine Regionalmarke, die draußen, wo keiner Crivitz kennt, Träume freisetzt. „Schweriner Seenland“ geht schon in die richtige Richtung.

Geschichten erzählen

Wenn wir uns und andere für das Leben hier begeistern wollen, geht das nicht über noch mehr Flyer oder Verwaltungskonzepte. Es geht um das, was Werbeleute Storytelling nennen: Geschichten erzählen, wie Arbeiten und Freizeit hier Spaß machen, wie sich Landleben angenehm von Metropolen unterscheidet, welcher Reichtum im Zusammenleben von Alteingesessenen und Zugezogenen, Kulturschaffenden, Touristen, Landwirten entsteht, wie das Internet Landleben verändert oder wie man sich mit Engagement in öffentliche Belange einbringen kann.

Natürlich müssen wir Kunst und Kultur ins Schaufenster unserer Region stellen. Dabei geht es nicht zuletzt darum, zahlungskräftige Nachfrage für Kunst und Kultur genau wie für Tourismus und Gastronomie, Bio-Angebote und die übrigen Branchen zu mobilisieren. Ohne Kulturwerbung geht das nicht.

Allerdings ich denke, die überzeugendste Werbung zum Nutzen aller entsteht, wenn wir Kunst- und Kulturschaffende sowie Kreative verschiedenster Branchen in gemeinsames Nachdenken und gemeinsame Aktionen zur Zukunft eines guten Lebens – einer gelingenden Neuen Ländlichkeit – verwickeln. Es geht darum, ihre Sichtweisen und Ideen mitten in einem Prozess bürgerschaftlicher Selbstverständigung zu holen.

Was gutes Leben ausmacht

Wenn wir Neue Ländlichkeit zum Leitbild nehmen, dann bekommen Kunst und Kultur einen ganz anderen Stellenwert. Sie sind dann nicht länger ein irgendwie exotisches und elitäres Anliegen, das auch mal ein paar finanzielle und rhetorische Streicheleinheiten braucht.

Dann entfällt auch die alte Streitfrage: Soll Kulturförderung Kann- oder Pflichtaufgabe sein? Dann gilt vielmehr: Wenn eine Kommunal-, Kreis- oder Landespolitik in ländlichen Regionen erfolgreich sein will, muss sie in allen Belangen der Zukunftssicherung den Dreiklang von Natur, Kultur und digitaler Revolution im Blick haben.

Was heißt das praktisch?

Wenn wir neue Ländlichkeit zum Leitbild nehmen, dann gehört alles zusammen, was gutes Leben hier bei uns ausmacht. Dann wird aus dem ODER der verschiedenen Angebote ein UND, aus Konkurrenz gegenseitige Verstärkung. Reiten und Töpfern, die Pilzwanderung und die Jazzband, der Fischereischein-Kurs und der Malworkshop, das Know-how für die Restaurierung alter Häuser und Möbel und die Lokalgeschichte, der bundesweit bekannte Filmemacher und die lokale Theatergruppe, Computerkurse und die Kunst des Kochens, Ausstellungen und Festspiel-Aufführungen ebenso wie die Lewitz-Exkursion.

Die neue Ländlichkeit bringt auch das zusammen, was sich in der kulturellen Szene häufig nicht riechen kann: Kunst und Kunsthandwerk, ernsthafte und unterhaltende Kultur, Amateur- und Profi-Schaffen.

Gerade eine solche Verbindung ist auch als kulturelles Konzept innovativ und mutig. So könnte ein Cluster mit Strahlkraft entstehen. In welchen Formaten man solch einen Ansatz realisiert, das würde den Rahmen heute sprengen. Gewiss ist die erfolgreich gestartete Kreativmesse in Leezen ein guter Ausgangspunkt. Entscheidend ist: Wo wollen wir hin?

Der französische Pionier und Schriftsteller Antoine de Saint-Exupery hat einmal geschrieben: „Wenn du mit anderen ein Schiff bauen willst, dann beginne nicht mit ihnen Holz zu sammeln, sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer.“

Genau solch ein großes Ziel ist es, was wir brauchen, wenn wir die Menschen bei uns in den Dörfern und im Amtsbereich, im Landkreis und in Mecklenburg für ein kulturvolles ländliches Leben – den Luxus Landleben – gewinnen wollen.

Wolf Schmidt

Autor Dr. Wolf Schmidt berät Stiftungen, ist Sprecher des Landesnetzes der Stiftungen in MV und leitet die „Initiative Neue Ländlichkeit” in der Mecklenburger AnStiftung. Kontakt: kontakt@dr-wolf-schmidt.de

4 comments

  • Magdeburger sagt:

    Momentan lese ich alles was das Thema Oberlausitz angeht, da ich mich so freue nun endlich nach 22 Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren. Von der Großstadt wieder zurück aufs Land, was gibt es schöneres. Entschläunigen und zur Ruhe kommen, das wünsch ich mir so sehr.

  • chris säbler sagt:

    Schönen, guten Tag Gestaltende,
    schockierend banal ist Hr. Dr. Schmidt`s unfriedliche Abwehr der Tatsache, dass Armut in der ganzen Welt zunimmt. Selbstverständlich steht jedem Menschen zu frei zu entscheiden wo Mensch leben möchte. Geld an sich ist eben kein Auswahlkriterium. Verschonen Sie uns mit Ihrer eigenen Affinität „Geld u Arbeit mitzubringen“. Dies ist das 21. Jahrhundert- für das Leben braucht es einfallsreiche geistige Beweglichkeit- für Finanzinteressierte gibt es ebenso Platz.

  • Lieber oder liebe Chris,

    das Wolf Schmidt „die Tatsache, dass Armut in der ganzen Welt zunimmt“ so formuliert wie von Ihnen verstanden, können wir bzw. ich, der Schreibende, seinem Text nicht entnehmen. Er sagt deutlich, dass „Geld“ ein entscheidender Faktor ist. Das ist nicht banal, sondern Realität. Dem ist aus unserer Sicht zuzustimmen, denn mit „nix“ lässt sich in unserer Gesellschaft normalerweise auch nicht viel bewegen. „Geld“ ließe sich an dieser Stelle auch durch „Tausch“ ersetzen.
    Auch bin ich nicht Ihrer Meinung in Bezug auf den Ort und die Entscheidung „an dem Mensch leben will“. Mitnichten. Das ist simplifiziert und nur wenigen Menschen (weltweit) vergönnt, weil eben auch Ressourcen abhängig.
    „Geld und Arbeit“ mitzubringen ist zudem eine gute Basis für einen Start im ländlichen Raum. Wovon wollen Sie leben? Was bringen Sie mit? Lust und Liebe?
    Und hier ein großes JA!: Wir leben im 21. Jahrhundert und JA! es braucht ganz unbedingt geistige Beweglichkeit, aber solange wir in einem „Geld-System“ stecken, lässt sich Geld eben nicht wegdenken.
    Herzliche Grüße
    Jan

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